14 Aug 2014

Liszt Ferencz: Ich bleibe bis zum Grab Ungar

Zu welcher Nation bekannte sich der Schwiegervater von Richard Wagner?


Nachfolgend werden wir uns dem Musikgenie Franz Liszt widmen. Kein Wunder, dass ihn jeder gern für sich beanspruchen möchte. Eigentlich nannte er sich Liszt Ferencz. Aber manche nennen ihn auch Franz Liszt oder Franz List ...



Glücklich, wer mit den Verhältnissen zu brechen versteht,
ehe sie ihn gebrochen haben.
Franz Liszt (1811–1886)


Im Ungarischen lautet der Name des Klaviervirtuosen und Komponisten Liszt Ferencz. So schrieb es das einstige Wunderkind gern auf seine Briefe. Anders als die Österreicher oder Slowaken sagen und schreiben die Ungarn zuerst ihren Familiennamen und erst danach den Vornamen. Nach der Gegend, in der Liszt das Licht der Welt erblickt hat und dem Arbeitsplatz­ seines Vaters, war seine Muttersprache Deutsch. In Deutsch-Westungarn (westliche Randgebiete Ungarns) war das nicht ungewöhnlich.

Manchmal findet man in den Quellen eine weitere Schreibweise des Namens, List, ohne das ungarische „sz“ also, was slowakische Autoren und Internetquellen dazu verleitete, in ihm einen Slowaken zu sehen. Diese Ansicht wird vehement verteidigt.

Allerdings gibt es auch Quellen deutscher „Gesinnung“, die wie folgt formulieren: … der weltberühmte Klaviervirtuose, der von deutschen Eltern herstammend zufällig in Ungarn das Licht der Welt erblickte … Demnach war Liszt ein Deutscher. In der nationalsozialistischen Zeit haben zahlreiche Autoren versucht, diese zweifelhafte These zu untermauern.

Liszt und seine Eltern lernten seit Beginn der 1820er Jahre Französisch. Bald wurde es die bevorzugte Sprache von Ferencz oder Franz, in der er auch einen großen Teil seiner Korrespondenz erledigte. In späteren Jahren sah er Frankreich gar als so etwas wie sein „Vaterland“ an. Doch wie war es mit seinem Ungarisch?

Erst in den 1870er Jahren bemühte sich Liszt, Ungarisch zu lernen, jedoch ohne durchschlagenden Erfolg. Da haben wir es also! Der ungarische Jahrhundertkomponist Liszt Ferencz konnte nicht einmal ordentlich Ungarisch! War er vielleicht doch Slowake?

In diesem konkreten Fall gibt es einen Kronzeugen, der die Frage beantworten kann, nämlich Franz Liszt selbst. In einem mit 7. Mai 1873 datierten Brief an Baron Antal Augusz schrieb er: I may surely be allowed, in spite of my lamentable ignorance of Hungarian language, to remain from my birth to the grave Magyar in heart and mind. (… ich bleibe von meiner Geburt an bis zum Grab Ungar im Herzen und Sinn). Trotz aller Internetstreitigkeiten bleibt es eine Tatsache, dass sich Liszt in der Öffentlichkeit selbst als Magyaren bezeichnete, was manche nicht daran hindert, weiter darüber zu spekulieren.

Das deutschsprachige Wikipedia formuliert diplomatisch und wohl auch historisch korrekt: Liszt … war ein österreichisch-ungarischer Komponist, Pianist, Dirigent, Theaterleiter, Musiklehrer und Schriftsteller.
Bemerkenswert ist die völlig andere Gewichtung der Fakten auf der slowakischen Wikipedia-Seite. Der Artikel ist insgesamt viel kürzer als der deutsche oder der ungarische, und ein beträchtlicher Teil der Abhandlung behandelt die Wurzeln von Liszt. Der nachfolgende Text ist eine wortwörtliche Übersetzung aus dem Slowakischen. Der Name des Komponisten iwird konsequent als „List“ angegeben, obwohl sich Liszt selbst nie so schrieb, sondern höchstens noch sein Vater.

Die Frage nach den Vorfahren und der Nationalität von Franz List ist verhältnismäßig kompliziert und deutet im beträchtlichen Ausmaß auf die nationale Vermischung der Bevölkerung in der österreichischen Monarchie hin. Nach dem slowakischen Musikhistoriker Miroslav Demko war List seinen Vorfahren nach Slowake. Sein Großvater hieß Juraj und unterschrieb als List. Seine Großmutter hieß Barbara Slezáková. Sein Vater, Adam, begann bereits seinen Namen in der ungarischen Schreibweise Liszt zu schreiben, jedoch erhielt er in der Schule im Pflichtfach Ungarisch immer die schlechteste Note. Dennoch hielt er sich wahrscheinlich für einen Ungarn/Madjaren (im Ungarischen und zum Teil im Deutschen gibt es nur einen Ausdruck für beide Begriffe), was beispielsweise aus den Texten eines Ankündigungsplakats für ein Konzert seines Sohnes am 1. Mai 1823 hervorgeht … In der Familie Lists sprach man kein Ungarisch, selbst Franz konnte es nicht. Miroslav Demko behauptet, dass seine Muttersprache Slowakisch war, er konnte Deutsch, aber noch besser Französisch. Getauft wurde er als Franciscus, er selbst unterschrieb als Franz, weil Slowakisch damals keine anerkannte Sprache war. Sie lebten in einem Teil des heutigen Burgenlands, der ursprünglich slowakisch war …

Und dann folgt – korrekterweise – der bereits zitierte Brief Liszts an Baron Antal Augusz, in dem sich der Komponist selbst „bis zum Grab“ als Ungar bekennt. Nun sticht aus diesem slowakischen Wikipedia-Beitrag trotz Bemühungen um formelle Korrektheit die tendenziöse Bemühung hervor, aus Liszt den Slowaken List zu machen. Zuerst wird auf die komplizierte ethnische Situation in der „österreichischen Monarchie“ hingewiesen, was allein schon historisch zu wenig präzise ist. Korrekter wäre zu schreiben: im „Königreich Ungarn, das Teil des Kaisertums Österreich war“.

Die „komplizierte ethnische Situation“ im Habsburgerreich ist eine unbestreitbare Tatsache, auf die wir wiederholt hinweisen. Wir vermögen es nicht zu beurteilen ob die Vorfahren von Liszt seitens des Vaters Slowaken waren, aber daran wäre nichts Besonderes. Die Menschen haben sich über Jahrhunderte auf eine unglaubliche Weise vermischt. Genauso richtig ist es nämlich, dass es sehr viele Slowaken gegeben hat und immer noch gibt, die ungarische Wurzeln haben. Und ebenso sind die Österreicher, zumindest im östlichen Teil des einstigen Habsburgerreiches, ein absolutes Mischvolk aus Deutschen, Tschechen, Ungarn, Slowaken, Slowenen, Kroaten, Serben, Bosnjaken und damit auch Türken, Polen, Juden, Rusinen, Rumänen und zahlreichen weiteren.

Der Wikipedia-Artikel betont, dass der Vater Lists zwar Ungarisch lernen musste, doch in diesem Fach immer die schlechteste Note erhielt. Dann wird es widersprüchlich, denn einerseits wird auf eine angebliche „slowakische Muttersprache“ hingewiesen, auf der anderen Seite zugegeben, dass sich Vater Adam wahrscheinlich für einen Ungarn/Madjaren hielt, was aus den Texten eines Ankündigungsplakats für ein Konzert seines Sohnes hervorgeht. Warum er als Franz unterschrieb? Weil „… er Deutsch konnte, aber noch besser Französisch“. Das ist eine verzwickte Interpretation, denn wenn die Familie erst später Französisch zu lernen begonnen hatte und Franz kein Ungarisch konnte, welche Sprache hätte er im Kaiserreich sonst sprechen sollen? Deutsch war wortwörtlich seine Muttersprache, stammte doch seine Mutter Maria Anna, geborene Lager, aus Krems an der Donau. Sie war Österreicherin.

Die ungarische Wikipedia-Erklärung ist wenig überraschend die bei weitem längste und ausführlichste. Aus den Zeilen geht deutlich hervor, dass sich die Ungarn „ihren“ Liszt Ferencz nicht nehmen lassen. Der Beitrag beginnt mit der Feststellung: 19. századi romantika egyik legjelentősebb magyar zeneszerzője, minden idők egyik legnagyobb zongoraművésze. (Einer der bedeutendsten ungarischen Komponisten der Romantik des 19. Jahrhunderts, einer der größten Klaviervirtuosen aller Zeiten.) Anders als im deutschsprachigen Beitrag spricht man nicht von einem österreichisch-ungarischen Musikgenie, sondern schlicht von einem ungarischen.
Ein langer Absatz geht auf Fragen seiner Herkunft ein. Demnach hielt sich Liszt Ferenc für einen Ungarn, was aus zahlreichen Äußerungen hervorgeht. Zu den bedeutendsten Beweisen zählt, dass er während der langen Aufenthalte in Paris, Weimar und Rom nie die französische, deutsche oder italienische Staatsbürgerschaft annahm, und er war auch nie österreichischer Staatsbürger. Bei seinen Reisen verwendete er immer den ungarischen Reisepass, dessen Ausstellungsbehörde in Sopron war. Auch die Kinder von Liszt waren ungarische Staatsbürger, wie aus einem 1845 geschriebenen Brief an Abbé Lamennais hervorgeht: ‚Da meine Kinder der Staatsbürgerschaft ihres Vaters folgen, sind sie, ob sie wollen oder nicht, Ungarn.‘
Auf dem Geburtshaus von Liszt in Doborján sind heute zwei marmorne Gedenktafeln zu finden. Die erste in ungarischer Sprache besagt: Itt született Liszt Ferenc 1811. október 22-én. Hódolata jeléül a Soproni irodalmi és művészeti kör. (Hier ist am 22. Oktober 1811 Liszt Ferenc geboren. Als Zeichen des Respekts der Literatur- und Kunstkreis Sopron.) Diese Tafel wurde noch zu Lebzeiten des Künstlers am 7. April 1881 in seiner Anwesenheit enthüllt.

Die zweite Marmortafel wurde in deutscher Sprache verfasst und 1926 von der deutschen Regierung, der österreichischen Bundesregierung und der Burgenländer Regionalregierung enthüllt. Es ist fragwürdig, ob Franz Liszt diese „Ehre“ jemals gewollt hätte, wenn er sich noch dagegen hätte wehren können: Hier ist am 22. Oktober 1811 Liszt Ferenc geboren. Diese Gedenktafel hat das Deutsche Volk für einen deutschen Meister aufgestellt.

Das war fünf Jahre nach der definitiven Landnahme des einst ungarischen Burgenlands durch Österreich. Der aufkeimende Nationalismus bzw. Nationalsozialismus in Deutschland prägte diese Formulierung, das Bedürfnis des multiethnischen Burgenlands, seine noch ganz frische Identität als österreichisches Bundesland zu stärken. Ob es auch französische Quellen gibt, die Liszt als Franzosen deklarieren, ist uns nicht bekannt. Gestorben ist Liszt übrigens 1886 in Bayreuth.

Der Fall Liszt zeugt von der Anziehungskraft und Faszination, die das Ungartum auf viele Menschen des 19. Jahrhunderts ausübte. Nicht jeder Nichtmagyare, der sich in jener Zeit zum Magyarentum bekannte, war ein Opfer der Zwangsmagyarisierung. Die Autoren kennen das Phänomen aus der eigenen Familie: Groß- und Urgroßvater Alois (Alajos) Hofrichter war gebürtiger Wiener. Sein Ungarisch verriet die österreichische Abstammung durch einen spürbaren Akzent. Doch fühlte er sich bis in seine tiefste Herzensregung als Ungar. Er ließ sich als Folge der Beneš-Dekrete enteignen und, wie wir an anderen Stellen berichten, mitsamt seiner Familie und vier minderjährigen Kindern auf die Straße werfen, doch war er nicht bereit, sich „reslowakisieren“ (Zwang sich zur slowakischen Nationalität zu bekennen) zu lassen. Das war nach Angaben von Paul Lendvai das Schicksal von 350.000 damals in der Tschechoslowakei lebenden Ungarn.
Wikipedia ist eine wunderbare Erfindung der modernen Zeit. Noch nie konnte man innerhalb weniger Sekunden so schnell so viel erfahren. Doch gebildete Menschen wissen, dass sie nicht alle Informationen für bare Münze nehmen dürfen. Wenn es um national angehauchte Themen geht, dann ist der zuverlässigste Weg einer Annäherung an die Wahrheit jener, den wir hier präsentiert haben: die Artikel in den unterschiedlichen Sprachen zu vergleichen, wozu die Autoren in der glücklichen Lage sind.

Keine der Sprachmutationen würden wir als falsch bezeichnen, über große Strecken sind sie wohl auch mehr oder weniger historisch korrekt, und dennoch kommen Person und Thema ein wenig unterschiedlich „rüber“.